Freitag, 11. November 2016

Jack The Ripper

Es ist noch unglaublich früh, niemand sollte um diese Uhrzeit unterwegs sein, geschweige denn wach. Straßenlaternen erhellen den anbrechenden Tag, der sich langsam und ungemütlich seinen Weg durch Regenschleier bahnt.
Auf den Asphaltwegen der Stadt rollen die Blechlawinen, der erste Andrang ist inzwischen vorüber, die ersten Menschen schlürfen vielleicht gerade den zweiten und dritten Schluck Kaffee aus schlecht gewaschenen Bürotassen.
Sie zwirbelt an der Schnur der Kopfhörer, wie immer haben sich über Nacht wahre Knotenrudel in die schwarzen Kabel hineingewunden. Sie seufzt, ihre Finger sind eiskalt und das Entwirren fällt ihr schwer.
Scheiße!, flucht sie und umrundet eine Pfütze, die sie gerade so aus den Augenwinkeln entdecken konnte.  Was für ein Morgen!, flüstert ihr durch den Kopf, als sie an der Bushaltestelle vorbeigeht und stumm Augenpaare ihr hinterher starren.
Erst waren beinahe zwei LWK mit ihrem Wagen kollidiert, dann hatte sie auf der Bundesstraße fast einen Fuchs überfahren. Zwei rote Ampeln und mehrere Flüche später parkte sie auf dem großen Parkplatz, wo man sie inzwischen tagtäglich antreffen konnte. Die Werkstatt gegenüber kam ihr schon vor wie unmittelbare Nachbarschaft, sie und die Arbeiter nickten sich zu, vielleicht konnte man im Sommer mal ein Bier zusammen trinken.
Tief hatte sie durchgeatmet, ehe sie den Rucksack auf den Rücken gezogen und auf die Fernbedienung des Autos gedrückt hatte.
Von ferne sah sie das Industriefeuer, das sie als Kind so fasziniert hatte. Wolkenschleier schoben sich vor die Flamme, die blaugrüngelbrot in die zu Ende gehende Nacht flackerte. Ein letzter Blick in die Fenster ihres Wagens, einmal das Spiegelbild überprüfen. Sie lachte, unwillkürlich.

Verdammt, war das kalt! Sie zittert, so sehr, dass sie ein klein wenig von ihrem Kaffee verschlabbert, den sie im Coffee to go - Becher vor sich her balanciert. Oder sich daran wärmt, je nachdem. Ein Bild für die Götter, wahrscheinlich. In der einen Hand, rechts, das Smartphone mit den endlos verquirlten Kopfhörern, in der anderen Hand, links, Kaffee. Halb dampfend, halb gefrierend, lebensnotwendig.
Sie nimmt einen Schluck der Koffeinbrühe, schließt die Augen, als sie das Elixier hinunterschluckt. Bitter und ungesüßt rinnt es ihren Hals hinunter, so wie sie es mag.

"She's been lonely and forgotten ever since/
But her beauty in the night light will remain"

Die beiden Zeilen aus Volbeats "Mary Jane Kelly" kommen ihr in den Sinn, im Kopf summt sie die Melodie mit.
Was für eine schöne Idee, einen Song über ein Opfer Jack the Rippers zu schreiben.
Sie lächelt.
1888 kann sie in Ziffern vor ihrem inneren Auge lesen - eigentlich war es eine spannende Zeit gewesen damals. Nicht anders als heute, irgendwie.
Mord, Totschlag, Krieg. Nichts Weltbewegendes und doch dreht sich der blaue Planet unaufhörlich, Jahr für Jahr.

In ihre Gedanken hinein rauscht der Zug, für den sie heute mitten in der Nacht aufgestanden ist. Niemand sollte um diese Uhrzeit unterwegs sein!

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