Samstag, 31. Dezember 2016

Abschluss

Ich atme tief ein, Nachtluft schneidet mir eisig in die Lunge, verteilt sich durch meine Adern im gesamten Körper. Für eine Sekunde schließe ich die Augen, genieße die Kälte.
Raureif glitzert über die Verbundsteine des Parkplatzes, schwach bewegen sich Flaggen, werfen Schatten neben mein Auto. In meiner Hand glimmt die Zigarette, wärmt Eiszapfenfinger während das Nikotin mich irgendwie schwindlig macht.
Es ist so still um mich herum, fast kann ich das Blut in meinen Ohren rauschen hören - beruhigend.
Über mir Abermillionen Sterne, die Milchstraße, die vielleicht schon vor so vielen Jahrzehnten erloschen ist. Es funkelt und leuchtet, ich fühle mich klein. Winzig und kalt, halb erfroren, und doch mitten im Leben. Auf diesem Parkplatz, nachts, um kurz vor eins.
30.12.2016 lese ich auf dem Display meines Handys, als es kurz aufblinkt. Bilder ziehen durch meinen Kopf, verschwinden aber wieder von der Leinwand, lassen mich zufrieden und glücklich zurück.
Während ich nach oben schaue, in diese unendlich schöne Sternenpracht, schließe ich mit 2016 ab. Still, eiskalt, nur für mich. Keine Knaller, keine Böller, kein Sekt. Keine Feier, kein Frohes Neues Jahr. Nur ich und meine Gedanken.

Dienstag, 27. Dezember 2016

Unglück

Atemlos kam er zu sich, im Bett sitzend, seine Frau neben ihm. Sie schnarchte leise, wahrscheinlich lag sie auf dem Rücken. Mit einem Blick vergewisserte er sich, ja, Rückenlage, den Kopf nach hinten überstreckt. Eine Hand friedlich in die Bettdecke geballt, die andere irgendwo im Kopfkissen. Langsam beruhigte sich sein Atem, langsam bekam er seine Gedanken wieder unter Kontrolle. Ein Traum, mehr nicht. Ein furchtbarer Traum, der ihn aus der Bahn geworfen hatte. Er… War das Rauch, was sich schwer auf seine Lunge legte beim Einatmen? Er schnüffelte intensiver, schloss die Augen, um jede olfaktorische Schwankung wahrzunehmen. Rauch, eindeutig! Weiß und wabernd kroch er hinein in ihre Schlafzimmer, setzte sich im Läufer fest und vernebelte die Sicht zum Wandschrank. Vom Fenster fiel ein Lichthauch hinein, die Straßenlaterne schenkte der Nacht ihre LED-Kühle.
„Schatz, Liebling, wach auf!“, seine Stimme krächzte tonlos, als er sie unsanft an der Schulter wachschüttelte. „Es brennt!!!“, heiser und rau klang der Schrei, er hatte selbst keine Ahnung, woher er die Kraft nehmen konnte. „Wir müssen raus hier!“ Sein Hirn ratterte, während seine Frau sich im Bett langsam aufrichtete. Ihre Knochen taten immer so weh, jede kleine Bewegung kostete sie enorme Anstrengung. „Hm?“ Mit einem Satz war er aus dem Bett, woher kam nur all diese Energie? „Es brennt, Liebling, wir müssen aus dem Haus!“ Tränen traten in die Augen seiner Frau, ihr Mund verzog sich wie bei einem trotzigen Kind. „Warum!“ Keine Frage, sondern eine Aussage, die beinahe pampig im Rauch hängen blieb. Sie musste husten, das Beißen der Schwaden kroch in ihren Hals und von da aus in Bronchien und Lunge. Hier, zieh dir das über“, er warf ihr eine dicke Weste von sich selbst hin, mehr Zeit war nicht. Draußen dröhnte schon das Martinshorn der anrückenden Feuerwehr, Blaulichtschimmer überzog die Dächer der Nachbarschaft bereits. Ruhig, bleib ruhig, beschwichtigte er seine aufkeimende Panik, alles wird gut. Sein Blick fuhr gehetzt über Wandschrank und Rollstuhl, wie sollten sie das nur schaffen? Wahrscheinlich war in der Wohnung im Erdgeschoss, bei diesen Yuppies mit ihren ewig qualmenden Schundschloten eine Kippe auf einen Teppich gefallen. Oder sie waren eingeschlafen. Oder.. Keine Zeit, andere zu verurteilen, er musste handeln, ihr Leben hing davon ab!
Mühsam hatte seine Frau sich inzwischen auf die Bettkante gehievt und ließ ihr Bein auf den Boden hängen. Der Stumpf berührte die Matratze und reichte gerade ein kleines Stück darüber, die Schlafanzugshose bedeckte ihn jedoch. „Und jetzt?“ Sie sah ihn an, ihren Mann, der eigentlich eher ein Herr war. Ein feiner Herr, wie sie schon damals gedacht hatte, als er ihr in dem kleinen Fotogeschäft des erste Mal begegnet war. Ihre Augen fixierten ihn, sie suchte seinen Blick, suchte Antworten auf ihre Frage. Eingefroren in blaues Gletschereis schien der Augenblick, nur der Rauch quoll inzwischen dicker und schwärzer unter der Türspalte durch. Wenige Minuten waren erst vergangen, zwischen dem abrupten Aufwachen des Mannes und der Frage der Frau, die ohne ihren Rollstuhl praktisch verloren war. Steif und unbeweglich, mit trüben Augen und müde. „Wir müssen raus!“, fauchte er fast. Sie lachte, kalt und ohne eine Spur Humor in der Stimme. „Und wie?“ War es Verzweiflung, die sein Gesicht dunkler werden ließ oder benebelte der Rauch inzwischen auch ihre Wahrnehmung? „Ich hol‘ dich!“ Ohne ihr Protestieren abzuwarten, war er um die Bettkante herum und versuchte, ihren Körper in seine Arme zu wuchten. „Wir schaffen das, ja?“
Vor ihrer Schlafzimmertür polterte es, ehe ein Feuerwehrmann in den Raum gestolpert kam. Mit Atemschutzmaske und Taschenlampe rief er raus, ohne sich umzudrehen: „Zwei Personen, lebend im Schlafzimmer. Wir brauchen eine Trage!“

Samstag, 24. Dezember 2016

Antagonist

Die Fahrstuhltür knackt hinter ihm, sollte sie nicht eigentlich ein Schiebegeräusch von sich geben? Er runzelte die Stirn, vergaß aber beinahe im nächsten Augenblick das Knacken. Zu welcher Etage musste er? Er zog die Brille auf der Nase ein Stückchen tiefer und schielte über den Rand auf die Knöpfe der Bedientafel. „Dr. Maas, Allgemeinmediziner, 3. Etage“ Zufrieden drückte er den Goldknopf und richtete die Brille auf dem Nasenrücken wieder gerade. Leise surrte die Mechanik des Fahrstuhls, er konnte einen Ruck spüren, als die Kabine sich langsam nach oben in Bewegung setzte. Er stand alleine auf dem Kachelboden, dessen Belag längst bessere Zeiten gesehen hatte. Die gegenüberliegende Wand war verspiegelt, hatte Schrammen und Schlieren und dringend einen Putzlappen nötig. Irgendwie musste er schmunzeln, wie er sich so dastehen sah. Alt und faltig, die Schultern jedoch stramm nach hinten, den Kopf aufrecht nach oben. Wie es sich gehörte, dachte und sein Schmunzeln wurde zu einem Grinsen. Inzwischen war die Fahrstuhlkabine im ersten Stock angekommen, glitt jedoch an ihm vorbei. Wieder war ein Knacken zu hören, das vermutlich immer noch nicht zu der fahrstuhlüblichen Geräuschkulisse gehörte. Sein Grinsen verschwand und durch die schlechte Beleuchtung sah er plötzlich nur noch alt und grau aus.
Ohrenbetäubend und unsanft kam der Fahrstuhl mit einem Mal zum Stehen, auf der Stockwerkanzeige blinkte ein kleiner roter Telefonhörer und die Notbeleuchtung schaltete sich ein. Okay, ruhig bleiben!, schoss ihm durch den Kopf, nimm den Hörer vom Telefon ab und rufe um Hilfe! Vorsichtig tapste er einen Schritt nach vorne und griff nach dem Nottelefon, das ihm mit einem Piepen verriet, gleich weitergeleitet zu werden.
Ganz nah stand er nun an der verspiegelten Fahrstuhlwand und während er dem Piepsen im Telefon lauschte, betrachtete er sich. Eingefallen und kränklich waren seine Wangen, sie setzten sich scharf vom Jochbein ab, warfen einen messerscharfen Schatten. Frisch rasiert hatte er sich heute Morgen, eine winzige Schnittwunde hielt noch ein Blutströpfchen fest, er wischte es langsam ab. Zerschlissen sah er sich selbst in die Augen, sie wirkten so müde und blass, so wässrig, dass er es mit der Angst bekam. Bin ich das? Bin das ich, kann das wirklich sein? Ich kenne den Mann nicht, ich weiß nicht, wer das da im Spiegel ist. Dieser Mann sieht aus wie, sieht aus wie ein Schatten von mir, von dem Mensch, der ich einmal war. Wann habe ich angefangen, dieser neue Mann zu sein? Wann bin ich so alt geworden? Zittrig führte er seinen Zeigefinger an seine Lippen. Er spürte, wie spröde sie waren, wie aufgesprungen die einst zarte Haut sich anfühlte unter seiner Berührung. Wohin ist ihr Rot gegangen, wann ist das Rot meiner Lippen ausgelaufen? Sein Herzschlag beschleunigte sich, seine Atmung ging schnell und rasselnd. „Hallo, hört mich jemand?“, er brüllte die Worte beinahe in den Hörer seiner Hand. Er wollte raus aus der Kabine, hinaus an die frische Luft, wo er atmen konnte, frischen Sauerstoff. Ganz sicher würden sich seine Lippen an der frischen Luft wieder mit ihrem alten Rot füllen, seine Augen wieder glänzen und ihre Wässrigkeit verlieren. Ganz sicher… Er keuchte, rang nach Atem. Der Mann in der Spiegelwand schien hämisch und eiskalt zu grinsen. „Hallo Alterchen, mein Name ist Senesco, ich habe gehört, wir arbeiten zusammen im erfolgreichen Unternehmen Vita Bona… Lasset die Spiele beginnen!“

Dienstag, 13. Dezember 2016

Yes, Virginia, there is a Santa Claus.

"Yes, Virginia, there is a Santa Claus. He exists as certainly as love and generosity and devotion exist, and you know that they abound and give to your life its highest beauty and joy."

Ich war noch klein, als meine Urgroßmutter die Worte, die Francis P. Church am 21. September 1897 in der New York Sun auf ihre Reise durch Zeit und Generationen schickte, vorlas. Auf ihrem Schoß sitzend, an der Tischdecke zerrend und mit den Beinen baumelnd lauschte ich ihrer Stimme.
Irgendwie lag Traurigkeit in ihr, hörte ich ein Zittern heraus? Mein kindliches Ich, vielleicht sechs Jahre alt, verscheuchte den Gedanken daran und ich vergas für lange Zeit den bewegenden Text.

Heute, über 119 Jahre nach Veröffentlichung des wohl berühmtesten  Leitartikels aller Zeiten, erinnerte ich mich wieder daran.
Ich sehe mich in ihrer kleinen Wohnung, Zeitungen auf dem Tisch, Kreuzworträtsel, halb gelöst, halb vollgekritzelt mit meiner Geheimsprache, die nur und ausschließlich ich verstanden hab. Es ist warm im Raum, draußen wird es langsam dunkel und die Heizung knistert gemütlich. Beinahe ist Winter, gerade noch so Herbst.
Uromas Kaffee steht in ihrer alten Tasse auf dem Tisch, ein paar Tropfen sind wohl auf den Zeitungen gelandet, als ich mich mit Karacho zur Begrüßung in ihre Arme gestürzt habe. Sie erzählt mir von früher, wie immer, wenn ich sie danach frage. All ihre Geschichten und Erfahrungen verpackt sie in wundersame Märchen, voller Gefühl und Wahrheit. Ich hänge an ihren Lippen, kann kaum genug bekommen von ihren Erinnerungen. Manchmal wird ihr Blick so traurig, dass ich sie ein wenig in den Arm nehmen muss, um ihr vielleicht ein bisschen Schmerz zu nehmen. Ich denke nicht darüber nach, mein kindliches Ich schenkt ihr Unbeschwertheit und Trost.
Ganz genau kann ich mich daran erinnern, wie sie mich dann anlächelte, eine Träne aus den Augenwinkeln wegblinzelte und mich mit den vielen Lachfalten ansah, die ich so sehr an ihr liebte.

Sie greift mit einem verschmitzten Lachen nach einer Zeitung, gerade nach der, auf der sich die Kaffeepfütze gesammelt hat.
"Ich lese dir eine Geschichte aus der Zeitung vor", kündigt sie mir an und zieht mich auf ihren Schoß, obwohl ich eigentlich schon zu groß bin, um dort noch bequem sitzen zu können.

"Virginia, you're little friends are wrong. They have been affected by the skepticism of a skeptical age." Natürlich liest sie mir den deutschen Text vor, die Übersetzung, die an diesem Morgen in der Tageszeitung abgedruckt war.  Doch wenn ich mich jetzt daran zurückerinnere, stelle ich mir gerne vor, wie sie mir den englischen Text vorgetragen hätte.

"There would be no childlike faith then, no poetry, no romance to make tolerable this existence."

Ihre Stimme versagt ein kleines Bisschen, wird brüchig und ich weiß, ich sehe sie an.

"Did you ever see fairies dancing on the lawn? Of course not, that's no proof, that they are not there."

Sie atmet ein und aus, ganz leise bin ich, warte darauf, wie es weitergeht. Und sehe im Geist die achtjährige Virginia vor mir, die  ungeduldig auf eine Antwort in der Zeitung wartet. Eine Antwort, die für sie die größte, vielleicht allergrößte Bedeutung in ihrem ganzen Leben haben wird.

"Tell me the truth: is there a Santa Claus?"

Vielleicht habe ich kurz darüber nachgedacht, ob es einen Weihnachtsmann  geben kann, doch in meiner Welt kam zu Weihnachten das Christkind. Jenes blondhaarige Mädchen im strahlend weißen Kleidchen, das Geschenke und Süßigkeiten im Schlepptau hatte.

"How dreary would be the world if there were no Santa Claus! (...) Thank God, he lives. And lives forever. A thousand years from now, Virginia, nay, 10times 10,000 times from now, he will continue to make glad the heart of childhood."

Erst heute, 21 Jahre später, denke ich wieder an die Worte, die sie mir an diesem Nachmittag im frühen Winter vorgelesen hat, und die heute noch genauso aktuell sind, wie im Jahre 1897 in New York, als ein kleines Mädchen namens Virginia O'Hanlon  die mutigste Frage aller Zeiten gestellt hat.


(http://www.nysun.com/editorials/yes-virginia/68502/)

Montag, 12. Dezember 2016

Schwebend.

Während ich durch die Kälte laufe und der Wind mit meinen Haaren Fangen spielt, sehe ich sie an. Sie lächelt leicht, als hätte sie wundervolle Gedanken, die sie trotz der atemberaubenden Temperaturen innerlich warm halten. Das Septum in ihrer Nase sitzt schief - die schwarzen Kugeln haben sich irgendwie asymmetrisch verteilt, ein wenig muss ich kichern.
"Was?" Scheint ihr Blick zu fragen, den sie mir zuwirft, sachte schüttelt sie den Kopf und greift nach meiner Hand. "Eiszapfen...", murmelt sie beinahe empört und umschließt meine Finger mit ihren.
Mein Herz rutscht ein Stück, nur um fast im selben Moment wieder in die höchsten Höhen und noch viel weiter katapultiert zu werden. Allein ihre Berührung lässt meinen Körper summen und vibrieren und gibt mir das Gefühl, nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein.
Ich fühle mich als würde ich durch eine Wand aus rosa Zuckerherzchen schweben, die so unendlich weich und zart sind, wenn sie meine Haut streifen. Sie schmecken süß und zuckrig und eigentlich viel zu irreal für diese Welt, die sonst irgendwie hart und kalt zu sein scheint. Oder zu sein schien? Eine Sekunde kneife ich die Augenbrauen zusammen - und erschrecke, als ich plötzlich einen Kuss auf meinen Lippen spüre.
"Du bist mein ganzes Glück!", haucht sie und während wir uns in den Armen liegen, zieht die Welt mit all ihren Geschehnissen an uns vorüber.