Dienstag, 24. Januar 2017

Gleis-Bett

Sein Blick schweift durch die Dunkelheit, in der er gerade noch Umrisse und Schemen erkennen kann. Schatten, die sich vor ihm verbergen, in seinen Gedanken wühlen und wüten. Ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. 
Nie.
Die Schatten seines Lebens... 
Er seufzt, als er an der kalten Zigarette zwischen den längst eingefrorenen Fingerspitzen zieht. 
Für eine Sekunde schließt er die Augen, schmeckt bitter Nikotin auf seinen Lippen und spürt Winterwind auf der Haut. 
Um ihn herum passiert das Leben, der Alltag. Menschen auf ihrem Heimweg stoßen an seine Schultern, nuscheln Entschuldigungen und eilen weiter. Dem nächsten unwichtigen Termin entgegen, zu der übernächsten Verabredung, um belanglos Kuchengabeln voller Kaffeestückchenkrümel in Münder zu schieben. 
Als er die Augen wieder öffnet, schwankt er für einen Moment, gerade lange genug, um den Bruchteil einer Sekunde zu füllen. Eine Ewigkeit. 
 *
Die Ansage am Bahnhof knurrt unhöflich, wirklich zu verstehen ist sie nicht. 
Schlecht gelaunt, oder was?, denkt er und muss beinahe grinsen. Beinahe. 
Ehe das Lächeln überhaupt die Chance hat, zu seinen Lippen, seinen Mundwinkeln vorzudringen, fallen Gedanken wie Harpyien über es her. Sie zerfleischen es, zerfetzen jeden noch so winzigen Funken Lachen. Sie löschen es aus, als hätte es nie existiert. 
Hat es denn jemals existiert? Er kneift die Augen ein wenig zusammen, legt die Stirn in Falten, versucht sich daran zu erinnern ob er irgendwann in seinem Leben einmal ehrlich gelächelt hat.
Als Kind vielleicht... Unbeschwert und frei. Frei sein, Freiheit, frei.
Von Sorgen und Ängsten. Von Hoffnungen und Befürchtungen. Frei von den Dämonen, die aus ihm selbst kommen und ihm... all diese Dinge antun. 
Diese Dunkelheit aus ihm selbst ist es, die ihm heute am meisten Angst macht. Bitter und kalt schleicht sie sich in seine Adern, verbreitet Nebel und Kopfschmerzen, setzt sich in seinen Gliedern fest, gräbt ihre Krallen tief in seine Magengrube.
Schwarz trieft sein Herz, wie die Lunge eines starken Rauchers. 
*
Kalt liegt das Metall der Schienen im Gleisbett. Züge rollen so tonnenschwer darüber, wie seine Seele in seinem Körper wohnt. 
Der Schotter vibriert fast elektrisch unter dem Gewicht, Gänsehaut breitet sich über seine Haut aus. Er spürt, wie sich fein die Härchen stellen, erst auf dem Rücken, dann über die Oberarme hinunter zu seinen Händen. 
Menschen stolpern aus den sich öffnenden Abteiltüren, hinaus in Kälte, Dunkelheit und Nacht. 
"Dieser Zug endet hier, bitte achten Sie auf die Ansagen am Gleis", quäkt monoton die Computerstimme, die schon wenige Minuten zuvor kaum zu verstehen war.

"Dieser Zug endet hier...", wiederholt eine Stimme in seinem Kopf - ein Stich durchfährt ihn irgendwie. Endet hier... Die Worte hallen in seinen Gedanken nach wie ein Echo, das nicht verklingen mag.

Endet. 
Hier.

Seine Unterlippe zittert, unwirsch berührt er mit dem Zeigefinger die zarte Haut. 

Tränenglitzernd wirft er einen Blick auf sein Handy, 19Uhr27, am 24.Januar 2017. 

 
 In seinem Kopf summt und surrt es, Chaos und Ruhe, Existenz und Nonpräsenz flackern auf, werfen ihm Wortfetzen und unvollständige Sätze zu, sie wimmern und betteln, befehlen und schreien. 
Sie schreien so laut wie nie zuvor, sie schreien, all ihre Wut, ihre Verzweiflung, ihr Chaos hinaus.

Er schreit mit und lächelt, vielleicht das erste Mal in seinem Leben, während der 19Uhr28-Zug einfährt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen