Sonntag, 1. Januar 2017

Mami, können wir gehen?

"Mami, können wir gehen?" Seine Hand zog an meinem Shirt, ich wedelte sie irgendwie weg. "Mami!!!!" Nachdruck und Quengelei in seiner Stimme, die sonst eher piepsig und hell war, ohne jede Spur von Trotz oder kindlicher Ungeduld.
"Einen Moment noch...", hörte ich meine eigene Stimme von weit her, als wäre mein Kopf in Watte gepackt. Oder in diese Polsterfolie, die man um Glas- und Keramikvasen stopfte, damit sie beim Umzug nicht zu Bruch gingen.
"Mami, ich will jetzt gehen!" Der Zug an meinem Shirt wurde verstärkt und tatsächlich schaffte der Kleine es fast, mich zu Fall zu bringen.
"Ich hab gesagt, einen MOMENT NOCH!" Auch ich hatte nur Nerven und die wurden gerade mehr als auf die Zerreißprobe gestellt.
Der Kleine zuckte zusammen, seine Finger ließen den Shirtzipfel los und ich fühlte mich blitzartig befreit.
Ich sah an ihn an.
Sein Kinn bebte, als würde er jeden Augenblick zu weinen anfangen und in seinem Augenwinkel glänzte es unheilvoll.
"Setz dich da hinten hin, bis ich fertig bin!" Hart und unnachgiebig schallten ihm meine Worte entgegen, beinahe wie Ohrfeigen.
Er nickte stumm, wischte sich mit dem Handrücken durchs Gesicht und zog die Nase hoch.

"Scheiße!"

Ich fluchte laut, blickte wieder unter mich und erinnerte mich daran, warum ich war, wo ich war.

Eingesperrt in einer Kirche, auf dem roten Teppich kniend, der vor dem Altar lag, Kerzenflackern um mich herum. Vor mir die Leiche einer Unbekannten, wunderschön sah sie aus.
Auf ihrer Stirn blühte frisch  eine Blutrose, eingebettet in ihre reine Haut. Haarsträhnen verteilten sich wirr darüber, mir war, als würde das schokoladenfarbene Brünett ihre tote Anmut besonders unterstreichen.
Mit dem rechten Zeigefinger strich ich der Toten über die Wange, eiskalt fühlte sie sich an, irgendwie taub. Ihre Augen, weit aufgerissen, faszinierten mich. Was hatte sie in ihren letzten Momenten, in ihren letzten Atemzügen gesehen? Was hatte sie gedacht, was gefühlt? Eine seltsame Mischung aus Unruhe und Neugier befiel mich, je länger ich meine Hand auf der Wange der Frau hatte.

"MAMI!"

Ich erschrak vor der Stimme, die mich wieder aus der Trance riss und in die Realität zurückbrachte.

"Können wir gehen?"

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