Sonntag, 21. August 2016

Luftballon

Ich sah dem Luftballon nach, der vom Wind immer weiter in den Himmel getragen wurde. Mal kippte er nach links, mal nach rechts, nur um in der nächsten Sekunde wieder schnurgerade aufzusteigen. Der Faden an seinem Ende bewegte sich mit den Luftströmungen, mir war, als würde er zum Abschied winken.

Es war September geworden, irgendwie.  Juni, Juli und August hatten sich davon geschlichen, auf Samtpfoten, stolz wie eine Perserkatze. 

Meinen Luftballon konnte ich kaum noch erkennen, ein Farbklecks am Himmelsgrau, so weit weg von der Erde.
Schauer überliefen mich, ich spürte, wie der Wind die Fährte einer einzelnen Träne auf meiner Wange nachzeichnete. Sie trocknete schnell und brannte sich mir doch tief in Herz und Seele. 

"Mama, wirst du mich immer lieb haben?"

Die Frage hallte in meinen Ohren, wieder und wieder sah ich mich, meinem Kind über seine 
Wuschelhaare streichend. 

"Ich werde dich immer lieb haben!"
"Auch in tausend Jahren noch?" Seine Frage war  so voll kindlicher Sorge, dass sich mein Hals zuschnürte.
"Auch in tausend Jahren noch!" Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange, er drehte den Kopf unwirsch weg, dachte kurz nach. Seine Stirn legte er dabei in Falten und sah für einen Moment aus, wie ein sehr kleiner, sehr alter Mann in Batman-Pyjama.

"Mama...und wenn ich tot bin, wirst du mich dann immer noch lieb haben?" Ich konnte sehen, wie seine Augen, weit aufgerissen und so unglaublich grün,  nass wurden und seine Nasenflügel zu beben begannen. 
"Ja, mein Schatz, auch wenn du tot bist, werde ich dich immer noch lieb haben!" 
"Gut!" Er nickte und schmiegte sich zufrieden in meine Arme, eine Träne rollte einsam seine Wange hinab und landete auf einem der vielen Schläuche, die seit einigen Monaten zu seinem Körper gehörten.
Ich sah auf das Kind, das sich in meine Arme kuschelte und schluckte. Schluckte einfach alles hinunter, was sich in diesem Augenblick in mir aufbäumte, ich schob es nach hinten. Weit nach hinten, die Zeit würde kommen, alles hinauszulassen, aller Wut, allen Tränen, all den zu vielen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Es war September geworden. Und zusammen mit den Herbstwinden war meine Zeit gekommen. Meine Zeit, loszulassen, zuzulassen. Mein Kind in Frieden ziehen zu lassen.
Ich sah ins Himmelsgrau hinauf zu der Stelle, an der ich meinen Luftballon zum letzten Mal gesehen hatte und weinte.

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