Donnerstag, 29. September 2016

Der Junge

Ich fließe durch die Stadt, Samstagmittag. Horden von Teenagern jagen durch Shops und Boutiquen, tütenweise Schnäppchen schleppend. Familien mit kleinen und größeren Kindern flanieren Eis essend durch die Fußgängerzone. Wortgeblubber in Französisch, Deutsch, Englisch und Arabisch dringt an meine Ohren, während herbstlicher Wind Regenwolken davonträgt, die knallvoll über der Stadt hängen.
Knistern und Rascheln von Einkaufstüten untermalt die Monotonie von Musik, Räuspern, Husten und fröhlichem Geschnatter im Einkaufscenter. Hell und einladend ist die überdachte Ladenstraße, lockt mit mancherlei Angebot. Düfte, süß wie der Weihnachtsabend, wabern zwischen den samstäglichen Besuchern umher, verführen mit ihren Verheißungen. Brezeln, Kaffeeteilchen, Donouts, dazu lieblich Cappuccinodunst und Kakaosehnsucht.
Alles leuchtet und schillert, fast ist es eine Augenweide zuzusehen.
Ohne Hektik lasse ich mich treiben, mitreißen, fortspülen, wie Treibholz in einem Fluss. Wohin bringt mich die nächste Woge, wohin zerrt mich der übernächste Strom.
Smartphonemenschen mit Steifnacken strömen mir entgegen, vertieft in ihre Virtualität, während das Leben um sie herum in vollen Zügen stattfindet.
Irgendwo im ersten Obergeschoss bleibe ich stehen, muss mich orientieren. Boutiquen und Läden, soweit das Auge reicht. Jemand geht an mir vorbei, sein Geruch streift mich; irgendwas zwischen alter Pilzsuppe und Aftershave, das günstige.
Während mein Blick schweift, trällert auch mein Smartphone, ich ignoriere es.
„Mein Schatz, wir können uns das nicht leisten! Es geht wirklich nicht! Es tut mir Leid“
Ich hebe die Augen, versuche zu erkennen, wer die Worte gesprochen hat, die mir eine Gänsehaut verursacht haben. Die Stimme war hell und sanft, trotzdem robust, als wüsste sie, wie man den Strapazen des Lebens begegnet. Und definitiv die Stimme einer Frau, überlege ich, ehe ich sie sehe.
Zusammen mit einem Jungen, acht oder neun Jahre alt, steht sie ans Geländer gelehnt, hält seine Hand in ihrer und mit ihren Augen seinem Trotzblick stand. Ein wenig Traurigkeit zeichnet sich in ihrem Gesicht ab, undeutlich nur, kaum wahrzunehmen um die Augen herum. Im Gesicht des Jungen spiegelt sich dagegen alle Traurigkeit der Welt, gepaart mit Wut und Unverständnis. Sein Kinn bebt, wenn ich das auf die Entfernung sagen kann, als würde er jede Sekunde zu weinen anfangen.
„Wir können uns das nicht leisten!“
Die Worte hallen in meinem Kopf nach, ganz langsam verarbeitet mein Verstand sie. Eine Mutter, die dem kleinen Jungen aus Geldnot etwas verwehren muss. Ein Impuls schiebt mir einen Kloß in den Hals, ich habe das Gefühl, kaum mehr atmen zu können.
Weder Mutter noch Sohn sehen arm aus, gute Mittelschicht, denke ich. Ordentlich sind die Schuhe, die Jacken waren wohl etwas teurer. Keine Markensachen, diesen Firlefanz kann man getrost in diesen Schickimicki-Läden ruhen lassen.
Dezent geschminkt die Mutter, die Haare des Jungen kurz und modisch verstrubbelt. Eine Jeanshose mit Spiderman-Gürtel, Grundschul-Chick.
Und dazu das Kopfschütteln der Mutter.
Beide schweigen, sehen sich in die Augen, bis der Junge dem Blick ausweicht. Langsam, kraftlos und kapitulierend nickt er, wickelt sich dabei fester in die Jacke, obwohl die Temperatur im Einkaufcenter angenehm ist. Sanft legt seine Mutter ihren Arm um seine Schultern, er lässt sie hängen. Liebevoll schiebt sie den Kleinen Richtung Rolltreppe, kommt mir entgegen.
Ich suche an des Jungen Stelle ihren Blick, lächele sie mild an. Beinahe entschuldigend sieht sie aus, senkt die Lider und fährt die Rolltreppe hinab, während ich meinen Weg in den Samstag nehme.

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